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Angriffsdatum: 6. August 1994

GUNTER MARX

Anfang August 1994 lebt Gunter Marx mit seiner Frau und den drei Kindern in Velten (Oberhavel), einer kleinen Stadt 33 km nordöstlich von Berlin. Er ist 42 Jahre alt und arbeitet als Kraftfahrer. Ansonsten ist uns leider nichts über ihn bekannt.

DER ORT

Seit den 1980er Jahren gibt es in Velten eine fest etablierte, gewaltaffine rechte Szene. 1987 greifen rechte Skinheads nach einer Feier in einer Gaststätte erst den Wirt und dann die herbeigerufene Polizei an. In den letzten Jahren der DDR organisieren sich die rechten Skinheads im Altkreis Oranienburg in Gruppen wie „Gesamtsturm Velten-Oranienburg“ und „Sturmfeld Oranienburg“. [1] Nach der Wende wird der Altkreis Oranienburg zu einer Schwerpunktregion der organisierten rechten Szene. Die neonazistische Organisation „Nationalistische Front“ (NF) und ihre Nachfolgeorganisationen sind vor allem im Raum Hennigsdorf-Velten-Kremmen aktiv. Von hier aus bauen sie im gesamten Land Brandenburg Stützpunkte auf, halten Wehrsportlager ab, organisieren Sonnenwendfeiern und Kaderschulungen. Die Neonazis greifen zudem immer wieder Menschen an.

Neben den straff organisierten neonazistischen Strukturen gibt es gewaltbereite rechte Jugendcliquen, die schnell ein wesentlicher Bestandteil der Jugendkultur werden. Innerhalb kürzester Zeit erreicht die rechte Szene in Velten eine fast hegemoniale Stellung. Rechts zu sein, gilt als ,normal‘. Menschen, die sich dagegen engagieren, werden gnadenlos attackiert. Staatliche Behörden sanktionieren die oft schweren Angriffe nur selten ernsthaft.

Einen der Tiefpunkte bildet der Sprengstoffanschlag auf das Auto eines Jugendsozialarbeiters am 21. April 1993 in Velten. Er hatte im Rahmen seiner Arbeit versucht, gewaltorientierte rechte Jugendliche aus dem Umfeld der verbotenen NF herauszulösen. Der Anschlag wird nicht aufgeklärt. [2]

DIE TAT

Am 6. August 1994, kurz nach Mitternacht, überfallen vier rechte Skinheads Gunter Marx. Einer von ihnen tritt und schlägt ihn mit einem Werkzeug – und zwar so schwer, dass Herr Marx daran stirbt.

Gunter Marx ist gerade auf seinem Fahrrad unterwegs nach Hause, als die vier jungen rechten Skinheads langsam mit ihrem Auto die Viktoriastraße entlangfahren. Sie sind unterwegs, um willkürlich Leute auszurauben und „aufzuklatschen“, wie sie es in ihrer gewaltvollen Sprache nennen. [3] Zuvor haben sie tagsüber am nahe gelegenen See gebadet und Alkohol getrunken. Nun haben sie kein Geld mehr, wollen aber noch in die Disko.

Als sie Gunter Marx auf seinem Fahrrad entdecken, springt einer von ihnen aus dem Auto und tritt Herrn Marx sofort vom Rad. Dann tritt und schlägt der Skinhead auf den am Boden Liegenden ein und fordert Geld. Als Herr Marx sagt, er habe keines, schlägt M. L. mehrmals mit einem Radmutterschlüssel wuchtig auf seinen Kopf. [4] Anschließend raubt ein anderer Täter Herrn Marx, der sich nicht mehr regt, aus.

Die Neonazis lassen Gunter Marx einfach liegen und fahren mit dem Auto weg. Um sicherzugehen, dass Gunter Marx auch wirklich tot ist, kehren sie kurze Zeit später noch einmal zurück. Der Haupttäter steigt aus und tritt dem immer noch reglos am Boden liegenden Gunter Marx ein paar Mal ins Gesicht.

Danach überfallen die Skinheads noch ein Ehepaar, um Geld zu erbeuten. Dabei verletzen sie den 50-jährigen Mann schwer. [5]

DAS VERFAHREN

Dass die vier Täter aus der rechten Szene kommen, steht für die Staatsanwaltschaft außer Frage. Bei einer Hausdurchsuchung.finden die Ermittler_innen bei einem der Täter einen Baseballschläger mit einem eingeritzten Hakenkreuz und dem Schriftzug „Sieg Heil“. [6]

Gegen den zum Tatzeitpunkt 19-jährigen Haupttäter liegt bereits ein offener Haftbefehl wegen Körperverletzung einer Person aus Portugal vor. Ein Jahr vor dem tödlichen Angriff auf Gunter Marx hat er zudem eine russischsprachige Frau überfallen. [7] Schon in seiner polizeilichen Vernehmung bekennt er freimütig, rechtsradikal zu sein. [8] Die Jugendkammer des Landgerichts Neuruppin verurteilt ihn wegen Mordes und Raubes in drei Fällen zu zehn Jahren Jugendhaft. Bereits als 15-Jähriger, so das Urteil, „beging er schwerste Straftaten, die gekennzeichnet sind durch äußerste Brutalität“ und das Fehlen jeglichen Mitgefühls für andere Menschen.

Zwei der Mitangeklagten werden wegen schweren Raubes mit Todesfolge und schwerer Körperverletzung zu sechs bzw. vier Jahren und sechs Monate verurteilt. Der vierte Tatbeteiligte erhält eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren. [9]

In ihrer mündlichen Urteilsbegründung spricht die Richterin von Ohnmacht angesichts der rechten Straßengewalt. Auch wenn ein politischer Hintergrund der Tat nicht nachweisbar ist, spielt die damalige Zeit, in der gewalttätige rechte Skinheads ein wesentlicher Bestandteil der Jugendkultur waren, eine große Rolle. Die rechte Szene besaß zumindest gefühlt die Macht auf der Straße und hatte kaum Angst vor Strafverfolgung. Die Tätergruppe, eine Neonaziclique, war Teil dieser Szene. [10] Es ist zudem nicht auszuschließen, dass die rechte Einstellung der Täter, zu der die Rechtfertigung und Ausübung von Gewalt gehört, die Brutalität der Tat beeinflusste.

DAS GEDENKEN

Direkt nach der Tat ist das Entsetzen in der Stadt groß. Viele fühlen sich seit langem von den Rechten drangsaliert. Eine Woche nach dem brutalen Mord, am 13. August 1994, nehmen rund 500 Menschen an einem Schweigemarsch für Gunter Marx teil. Der örtliche Pfarrer ermutigt die Teilnehmer_innen, das Schweigen zu brechen: „Wir müssen lernen, über unsere Angst zu reden!“, sagt er beim Gedenken in der Viktoriastraße. [11]

Bis 2015 stufte die Opferperspektive den Mord an Gunter Marx als rechte Gewalttat ein. Durch die neuen Erkenntnisse aus der Studie des Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) ist jedoch davon auszugehen, dass die Tat nicht politisch motiviert war. Die Opferperspektive bewertet sie daher nun, dem MMZ  folgend, als nichtpolitische Kriminalität rechter Täter.


[1] Vgl.Problemaufriss Kameradschaften, in: Antifaschistisches AutorInnenkollektiv (Hg.) Hinter den Kulissen … Hinter- und Vordergründe der brandenburgischen Neonaziszene, Berlin 2013, S. 7
[2] Marcus Reinert/Judith Porath: Kontinuitäten in Oberhavel und Ostprignitz-Ruppin. Rechte Gewalt im Fokus. In: Kopke (Hg.): Angriff auf die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, Metropol, 2014, S. 97-108
[3] Moses Mendelssohn Zentrum, Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Überprüfung umstrittener Altfälle Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“, 2015, S. 91
[4] Olaf Sundermeyer: Rechter Terror in Deutschland, 2013, S. 98-99
[5] Susanne Lenz, Zehn Jahre muß der Haupttäter hinter Gitter. Hohe Strafen für Mord an einem Veltener Radfahrer, in: Berliner Zeitung v. 20.05.1995
[6] Niemand ist vergessen. / Annette Rogalla: Die Glatzen überfallen hier oft Leute, in: taz Nr. 4387 v. 10.8.1994
[7] Annette Rogalla: „Du Schwein hast kein Geld?, in: taz Nr. 4624 v. 20.5.1995
[8] Moses Mendelssohn Zentrum, Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Überprüfung umstrittener Altfälle Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“, 2015, S. 93
[9] Annette Rogalla: „Du Schwein hast kein Geld?, in: taz Nr. 4624 v. 20.5.1995
[10] Katrin Zimmermann, Was der gemacht hat, war doch echt scheiße, in: Berliner Zeitung v. 18.08.1994
[11] Annette Rogalla: Trauer um Neonazi-Opfer. Schweigemarsch zum Gedenken an den erschlagenen Gunter Marx, in: taz Nr. 4391 v. 15.8.1994

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