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Angriffsdatum: 12. Dezember 1991

TIMO KÄHLKE

Timo KählkeIm Dezember 1991 ist Timo Kählke 27 Jahre alt. Geboren ist er in Großräschen, nun lebt er mit seiner Familie in Senftenberg: Er ist glücklich verheiratet und Vater einer einjährigen Tochter und eines fünfjährigen Sohnes. In der Familie wissen sie, dass sie zusammengehören und sich aufeinander verlassen können. Timo Kählke spielt leidenschaftlich gern Fußball, ist passionierter Angler und schraubt gern an seinem alten Moped herum. Mit seiner Familie und Freund_innen unternimmt er gern Ausflüge. Als gelernter Elektrosignalmechaniker arbeitet er bei der Bahn. Um sich weiterzubilden, besucht er regelmäßig Lehrgänge. Gerade hat er beschlossen, sich weiterzuqualifizieren. Am Abend des 12. Dezember bringt er zuerst mit dem Auto seine Mutter nach Großräschen, um anschließend seine Partnerin von einer Betriebsweihnachtsfeier in Hörlitz abzuholen, damit sie in der Winternacht nicht mit dem Bus fahren muss. [1]

DER ORT

Die Lausitz ist Anfang der 1990er Jahre von neonazistischen Umtrieben durchzogen. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei die Neonazi-Organisation „Deutsche Alternative“. Aus ihrem Umfeld heraus entstehen weitere lokale Gruppen – etwa die „Spremberger Kameradschaft“ und die „Gubener Heimatfront“. Die sehr brutale rechte Szene verübt fast täglich Überfälle auf Diskotheken oder Geflüchtetenunterkünfte, wirft Brandsätze auf Wohnungen, greift GUS-Soldaten an und schändet jüdische und sowjetische Friedhöfe. So versucht sie in der Region mit Gewalt, vor allem in der Jugend, soziale Hegemonie zu erlangen. Extrem rechte Codes gehören zunehmend zum Lifestyles für Jugendlichen.

Viele Neonazis in der Region verherrlichen die Wehrmacht und die Waffen-SS. Dies zeigt sich auch bei der Wehrsportgruppe „I. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ – einer Gruppe, die im Tagebaugebiet paramilitärische Wehrsportübungen mit Maschinenpistolen durchführt und Sprengsätze baut. Ihr Ziel ist der bewaffnete Umsturz der Bundesrepublik.

Der Staat setzt den neonazistischen Strukturen nur wenig entgegen. So spricht z.B. der brandenburgische Verfassungsschutz in Bezug auf die „I. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ Anfang der 1990er Jahre lediglich von „Gruppen von Wilddieben, Waffennarren und Abenteurer[n]“ – er könne keine neonazistische Wehrsportgruppe erkennen. [2]

DIE TAT

Es sind vier Mitglieder dieser Wehrsportgruppe, die Timo Kählke am 12. Dezember 1991 bei Meuro nahe Senftenberg erschießen.

Die Neonazis planen einen Raubüberfall auf das Spielcasino „Las Vegas“ in Welzow, um von dem erbeuteten Geld Waffen zu bezahlen, die sie bereits erhalten haben. Für diesen Überfall brauchen sie ein Fluchtfahrzeug. [3] Mit Maschinenpistole und Gewehren bewaffnet, täuschen sie auf der Landstraße eine Autopanne vor. Als Timo Kählke anhält, um zu helfen, fordert ihn einer der jungen Männer auf, das Fahrzeug zu verlassen. „Auto her, oder ich leg dich um“, ruft er. Herr Kählke weigert sich, auszusteigen. Daraufhin schießt P.B ihm in den Kopf.

Um mit dem Auto losfahren zu können, schieben die Täter den Schwerverletzten auf den Beifahrersitz. Als Timo Kählke stöhnt, schießt der Haupttäter noch einmal auf ihn. Dann fahren sie mit dem erbeuteten Auto los – P.B. am Steuer, J. K., Anführer der „Werwölfe“, auf der Rückbank. Als die Täter feststellen, dass Herr Kählke noch lebt, schießt dieser ein drittes Mal auf ihn. Der Schuss ist tödlich. [4]

Anschließend fahren sie das Auto mit Timo Kählkes Leichnam in ein Waldstück bei Schipkau, übergießen es mit Benzin und zünden es an.

Zum Zeitpunkt des Mordes wartet Timo Kählkes Partnerin in Hörlitz auf ihn. Um 23 Uhr sind sie dort verabredet. Da ihr Mann nicht kommt, vermutet sie, dass etwas passiert sein muss, denn er ist immer sehr zuverlässig. Schließlich nehmen Arbeitskolleg_innen die aufgelöste Frau mit und bringen sie nach Hause. Doch auch dort ist ihr Mann nicht. Gemeinsam mit der Familie sucht sie ihn am Folgetag. Sie fahren die gesamte Fahrstrecke ihres Mannes ab, fragen überall. Doch niemand hat ihn gesehen. [5]

Das ausgebrannte Fahrzeug mit dem Leichnam wird zwei Tage nach der Tat gefunden. [6] Erst dann erhält seine Frau die Information, dass ihr Partner tot ist.

DAS VERFAHREN

Erst durch Hinweise von Anwohner_innen zu Detonationen und Schüssen im Tagebaurevier ermittelt die Polizei fast ein Jahr später die Täter. [7]

Der Prozess beginnt erst am 10. Januar 1994 vor dem Landgericht Cottbus. Die vier Angeklagten sind zwischen 20 und 29 Jahren alt. Ihnen wird Mord und illegaler Waffenbesitz vorgeworfen – bei einer Razzia im Oktober 1992 sind bei J. K. einhundertfünfzig Handgranaten, Maschinenpistolen, Feldausrüstung – meist sowjetischer Herkunft – und neonazistisches Propagandamaterial gefunden worden. [8]

Das Landgericht Cottbus verurteilt den damals Haupttäter zu einer neunjährigen Jugendstrafe. J. K. erhält eine

 

15-jährige Haftstrafe wegen versuchten Mordes und anderer Delikte. Die anderen beiden Mittäter bekommen Haftstrafen von drei und viereinhalb Jahren wegen schweren Raubes. Es folgen weitere Strafverfahren gegen Mitglieder der Wehrsportgruppe wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz und illegalen Waffenbesitze

Nach Einschätzung des Cottbuser Oberstaatsanwaltes handelt es sich bei der „I. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ um „die gefährlichste rechtsextremistische Gruppierung in Ostdeutschland“. [9] Der Bundesgerichtshof stuft die Gruppe jedoch nicht als kriminelle Vereinigung ein – mit der verharmlosenden Begründung, die Mitglieder hätten keinen eigenen Willen, sondern hingen von einer Führungspersönlichkeit ab. Außerdem zeige sich bei einigen von ihnen lediglich „ein geradezu jungentypisches Interesse am Hantieren mit selbstgebastelten Sprengkörpern“. [10]

Das Gedenken

Ein öffentliches Gedenken an Timo Kählke hat bisher nicht stattgefunden.


[1] Opferperspektive: Interview mit Kathrin Kählke, der Ehepartnerin von Timo Kählke, im Herbst 2021
[2] Simone Wendler: Die 1. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg und der Mord an Timo K., Erstveröffentlicht in: Heike Kleffner/Anna Spangenberg (Hg.): Generation Hoyerwerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg. Berlin: be.bra Verlag, 2016, S. S. 150
[3] taz, Nr. 4210, 11.1.1994: Auto her, oder ich leg dich um!“
[4] taz, Nr. 4214, 15.01.1994: Mordprozess gegen „Werwölfe“: „Dann hab ich geschossen“
[5] Opferperspektive: Interview mit Kathrin Kählke, der Ehepartnerin von Timo Kählke, 2021
[6] Brandenburger Verfassungsschutzbericht 1993, S. 27
[7] Simone Wendler: Die 1. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg und der Mord an Timo K.
Erstveröffentlicht in: Heike Kleffner/Anna Spangenberg (Hg.): Generation Hoyerwerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg. Berlin: be.bra Verlag, 2016, S. 153
[8] taz, Nr. 4214, 15.01.1994: Mordprozess gegen „Werwölfe“: „Dann hab ich geschossen“Der
[9] Spiegel Nr. 1/93, 04.01.1993: Starkes Gehabe
[10] Ebd.

weitere infos

weiterführende Informationen

Die 1. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg und der Mord an Timo K.

Simone Wendler

Im Wohnzimmer von Kathrin K. steht noch immer ein Foto ihres Mannes Timo. Seine Ermordung durch Anhänger einer rechtsextremen Clique ließ die damals 25-jährige von einem Tag auf den anderen mit zwei kleinen Kindern alleine zurück.

Erstveröffentlicht in: Generation Hoyerwerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg, be.bra verlag, 2016
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Mildes Urteil für die "Werwölfe"

Anja Sprogies, taz 22.1.1994

Fünfzehn und neun Jahre gegen die Hauptangeklagten wegen Mordes an einem Autofahrer / „Es war eine Mutprobe“ / Ein weiterer Prozeß beginnt in der nächsten Woche

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Mordprozeß gegen „Werwölfe“: „Dann hab' ich geschossen“

Anja Sprogies, taz 14.1.1994

Artikel zum Verlauf des Gerichtsverfahrens und die Befragung der Angeklagten.

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